OTTO KARL WERCKMEISTER

Aus dem Nachlass herausgegeben 

und mit einem Nachwort versehen 

von Wolfgang F. Kersten


BENJAMINS THESEN »ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE«

1.1 Auslegungsgeschichte

(1) Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1940 sind seit ihrer posthumen Erstveröffentlichung im Jahre 1942 als ein Haupttext aus dem Corpus der »Kritischen Theorie« kommentiert und erläutert worden. Mit ihnen legte sich der Autor, als sich seine marxistischen Überzeugungen nicht mehr halten liessen, eine Fundamentalerklärung der Weltgeschichte zurecht.

(2) In der bisherigen Auslegungsgeschichte dieser Thesen wird ihr philosophischer Geltungsanspruch meist umstandslos zur Exegese freigegeben. Dagegen werden die kulturgeschichtlichen Bezüge vernachlässigt, die sich über ihre Quellen herstellen lassen. So wird der absolute Geltungsanspruch honoriert, der in moderner Literatur von Proust bis Beckett immer wieder gestellt worden ist.

(3) Die suggestive bildliche Metapher des »Tigersprungs ins Vergangene« in Benjamins vierzehnter These eröffnet solche Bezüge zu Quellen, die sie historisch relativieren. Je mehr dabei von ihrem absoluten Geltungsanspruch verloren geht, desto stärker stellt sich jene subjektive Authentizität wieder her, die mit ihrem geschichtlichen Moment im Einklang steht.